Berufliche Flexibilität gewinnt an Bedeutung

Eine Steigerung der beruflichen Flexibilität kann Mismatch-Arbeitslosigkeit verringern und Engpässe reduzieren.


Die aufgezeigten Ungleichgewichte aus Berufshauptgruppen mit Arbeitskräfteengpässen und Arbeitskräfteüberschüssen führen zu einer potenziellen Zunahme der Mismatch-Arbeitslosigkeit. Ein verbessertes Matching von Angebot und Nachfrage kann dieser Entwicklung jedoch entgegenwirken. Das ist umso bedeutender, als dass durch die Engpässe in einzelnen Berufen auch Beschäftigung in komplementären Berufen beeinträchtigt wird. Konkret ist unter einem besseren Matching zu verstehen, die auftretenden Arbeitskräfteüberschüsse „umzuleiten“ in Berufe, in denen ein Engpass herrscht. Beruflicher Flexibilität - verstanden als Wechsel zwischen verschiedenen Berufen (Quereinstieg) - kommt mit Blick auf die Fachkräftesicherung daher eine zunehmend bedeutende Rolle zu. 

Das Ausmaß der beruflichen Flexibilität ist dabei stark von der bereits bestehenden Qualifikation abhängig. Dabei gilt: Je größer die Ähnlichkeit zwischen ausgeübtem Beruf und Zielberuf, desto „flexibler“ sind Erwerbstätige mit Blick auf einen Berufswechsel. Die berufliche Flexibilität kann nicht exakt gemessen, aber doch approximativ geschätzt werden. Hierfür bieten sich zwei Konzepte an: 

  1. Die Berufliche Flexibilitätsmatrix (BIBB/IAB 2020): beschreibt für jede der 37 Berufshauptgruppen die Wahrscheinlichkeit eines Berufswechsels in eine andere Berufshauptgruppe im Laufe des Erwerbslebens. Je höher die Wahrscheinlichkeit eines Wechsels zwischen zwei bestimmten Berufshauptgruppen, desto höher ist auch die berufliche „Nähe“.
  2. Die Mobilitätsquote von Arbeitslosen (differenziert nach Einmündungsberuf): beschreibt den Anteil der Arbeitslosen, bei denen bei Beschäftigungsaufnahme die Berufsfachlichkeit und das Anforderungsniveau zwischen Ziel- und Einmündungsberuf abweicht.[8] je höher die Mobilitätsquote, desto höher die berufliche Flexibilität. 

Im Folgenden wird zunächst aufgezeigt, für welche Berufshauptgruppen mit einem Fachkräfteüberschuss ein Wechsel in eine Berufshauptgruppe mit einem Fachkräfteengpass in Frage kommen könnte. Hierfür greifen wir auf die vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) entwickelte berufliche Flexibilitätsmatrix zurück. Darauf aufbauend werden für ausgewählte Berufsgruppen detailliertere Analysen anhand der Mobilitätsquoten durchgeführt. Im Ergebnis dieser beiden Schritte wird sichtbar, in welchen Berufshauptgruppen Ungleichgewichte aufgrund der beruflichen Flexibilität abgebaut werden können und in welchen Berufshauptgruppen dies eher weniger der Fall ist. Die Rolle unterschiedlicher Qualifikationsniveaus wird dabei ebenfalls deutlich. 

Die Auswertung der beruflichen Flexibilitätsmatrix für die Berufshauptgruppen mit einem Fachkräfteüberschuss zeigt erstens, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Wechsel von einer Berufshauptgruppe mit Überschüssen in eine der Berufshauptgruppen mit Engpässen zwischen 28 (Lehrende und ausbildende Berufe) und 61 Prozent (Technische Forschungs-, Entwicklungs-, Konstruktions- und Produktionssteuerungsberufe) beträgt (Tabelle 14).[9] 

Zweitens wird sichtbar, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Wechsel in den Engpassberuf Unternehmensführung und -Organisation in jeder der Berufshauptgruppen am höchsten ist. Da in dieser Berufshauptgruppe ebenfalls der – in absoluten Zahlen betrachtet – höchste Engpass mit über 100.000 Arbeitskräften im Jahr 2035 entsteht (Vgl. Kapitel 3.1), ist die hohe Wahrscheinlichkeit von Quereinstiegen sehr zu begrüßen. 

Drittens wird deutlich, dass für einige Kombinationen ein beruflicher Wechsel in einen der Engpassberufe nahezu ausgeschlossen ist. Hierbei sind insbesondere Berufshauptgruppen zu nennen, die eng mit dem Baugewerbe in Verbindung stehen, wie beispielsweise der Hoch- und Tiefbau oder (Innen-)Ausbauberufe. Vor dem Hintergrund der zukünftigen Herausforderungen bspw. mit Blick auf die energetische Gebäudesanierung ist dies ein kritischer Befund.

Abbildung 14

Für ausgewählte Berufshauptgruppen, für die sich anhand der Auswertungen der beruflichen Flexibilitätsmatrix besonders hohe oder geringe Wahrscheinlichkeiten eines Quereinstiegs ergeben, werden im Folgenden detailliertere Auswertungen auf Ebene der zugehörigen Berufsgruppen durchgeführt. Dabei werden für die jeweils relevanteste Berufsgruppe sowohl die Mobilitätsquote als auch die wichtigsten Einmündungsberufe von Arbeitslosen in verschiedene Berufsgruppen betrachtet. Die im Folgenden näher betrachteten Berufshauptgruppen sind: 

  • Technische Forschungs-, Entwicklungs-, Konstruktions- und Produktionssteuerungsberufe. Diese weisen mit 61 Prozent die höchste Mobilität aller Überschussberufe auf.
  • Informatik- und andere IKT-Berufe. Mit lediglich 34 Prozent ist die Mobilität der Personen in dieser Berufshauptgruppe im Vergleich sehr gering.
  • Berufe in Unternehmensführung und -Organisation. Diese Berufsgruppe bietet die höchste Wahrscheinlichkeit für einen Quereinstieg aus einem Überschussberuf.

Technische Forschungs-, Entwicklungs-, Konstruktions- u. Produktionssteuerungsberufe

Innerhalb dieser Berufshauptgruppe weist der Bereich Technische Forschung und Entwicklung mit 17.600 Personen (bzw. 21,3 Prozent der Nachfrage) im Jahr 2035 den höchsten Überschuss aus. Um Mismatch-Arbeitslosigkeit zu vermeiden, ist die Mobilitätsquote dieser Berufsgruppe daher besonders relevant. Sie liegt mit 80 Prozent über dem bayerischen Durchschnitt (65,9 Prozent). Die Einmündungsquote von Arbeitslosen dieser Berufsgruppe in andere Berufsgruppen bekräftigt den Eindruck der hohen Flexibilität. So münden lediglich 23 Prozent der Arbeitslosen in exakt diese Berufsgruppe ein (Abbildung 15).

Abbildung 15

Einmündungsquote Arbeitsloser der Berufsgruppe Technische Forschung und Entwicklung in andere Berufsgruppen, in Prozent, 2020

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Mit 14 Prozent dominiert die Unternehmensorganisation und Strategie als aufnehmende Berufsgruppe. Weitere Berufsgruppen mit Einmündungsanteilen von mindestens fünf Prozent stellen klassische Industrieberufe dar. Ganze 46 Prozent – und damit fast jeder zweite Arbeitslose – nimmt hingegen eine Beschäftigung in einer der Sonstigen Berufsgruppen auf. 

Die hohe berufliche Flexibilität in dieser Berufsgruppe spricht dafür, dass aus den ausgewiesenen, rechnerischen Überschüssen vermutlich keine Mismatch-Arbeitslosigkeit in relevantem Ausmaß entstehen sollte. Hierfür spricht ebenfalls, dass es sich bei 83 Prozent der in dieser Berufsgruppe Beschäftigten um Experten handelt – mit entsprechend fundiertem technischen Know-how, welches ebenfalls in weiteren Berufsgruppen und den damit verbundenen Tätigkeiten genutzt werden kann.

Informatik- und andere IKT-Berufe

Mit einem Überschuss von 13.000 Arbeitskräften (20,7 Prozent der Nachfrage) im Jahr 2035 ist die zugehörige Berufsgruppe Softwareentwicklung und Programmierung mit Blick auf die Vermeidung potenzieller Mismatch-Arbeitslosigkeit am relevantesten. Die Mobilitätsquote dieser Berufsgruppe liegt bei 70 Prozent Die nach Berufsgruppen differenzierte Einmündungsquote von Arbeitslosen zeigt, dass fast jeder zweite Arbeitslose in denselben Beruf einmündet (Abbildung 16). Auch die übrigen relevanten Einmündungsberufe haben mehrheitlich einen strengen IT-Bezug. Nur etwa ein Drittel der Arbeitslosen wird in Berufsgruppen tätig, die nicht den klassischen IT-Berufen zuzuordnen sind. Dieser Befund deckt sich ebenfalls mit den anhand der beruflichen Flexibilitätsmatrix dargestellten Ergebnissen.

Abbildung 16

Einmündungsquote Arbeitsloser der Berufsgruppe Softwareentwicklung und Programmierung in andere Berufsgruppen, in Prozent, 2020

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Aus dieser aktuell zu beobachtenden, vergleichsweise geringen beruflichen Flexibilität kann jedoch nicht zwingend geschlossen werden, dass die errechneten Überschüsse zu potenzieller Mismatch-Arbeitslosigkeit führen. Grund hierfür ist, dass es sich bei den Informatik- und anderen IKT-Berufe im Jahr 2020 noch um Engpassberufe handelt, die stark nachgefragt werden. Arbeitslose in diesem Bereich haben daher aktuell recht hohe Chancen, auch in die von Ihnen präferierten Zielberufe einzumünden und werden dies in der Regel auch gegenüber anderen Berufsbildern bevorzugen. Demzufolge ist es möglich, dass das tatsächliche Potenzial an beruflicher Flexibilität aktuell unterschätzt wird. In diesem Fall würden zukünftig benötigte Quereinstiege leichter fallen, als dies die aktuelle Mobilitätsquote vermuten lässt.

Berufe in Unternehmensführung und -Organisation

Diese Berufshauptgruppe bietet gemäß der Flexibilitätsmatrix die größten Chancen für einen Quereinstieg aus einem der Überschussberufe. Gleichzeitig ist dies die Berufshauptgruppe mit dem in absoluten Zahlen rechnerisch höchsten Arbeitskräfteengpass im Jahr 2035. Innerhalb dieser Hauptgruppe entfällt der potenziell größte Engpass mit etwa 74.500 Arbeitskräften (16,8 Prozent der Nachfrage) auf die Berufsgruppe Büro und Sekretariat. Diese Berufsgruppe wird in Unternehmen aus nahezu jeder Branche nachgefragt und ist entsprechend breit über die Branchen gestreut (Abbildung 17)

Abbildung 17

Aufteilung der Beschäftigten der Berufsgruppe Büro und Sekretariat nach Branchen, 2020, in Prozent  

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Ein weiterer Vorteil dieser Berufsgruppe als Einmündungsberuf ist, dass aufgrund ihrer Bedeutung für alle Branchen nicht regional konzentriert ist. Vorteilhaft ist zudem, dass es sich bei etwa drei Viertel der Arbeitskräftenachfrage in diesem Beruf um Fachkräfte handelt und die meisten Überschussberufe ohnehin akademisch oder beruflich geprägt sind (Vgl. Kapitel 3.3). Mit passgenauen Weiterbildungs- und Umschulungsmaßnahmen sollten 

Quereinstiege somit gut möglich und die meisten der Arbeitskräfte aus Überschussberufen mit Blick auf die hierfür benötigten Kompetenzen und Fähigkeiten nicht überfordert sein. 

Die Analysen in diesem Abschnitt zeigen, dass aus den rechnerischen Arbeitskräfteüberschüssen nicht zwingend Mismatch-Arbeitslosigkeit entstehen muss. Erstens finden sich deutlich mehr Berufe mit Engpässen, in denen Arbeitskräfte vermehrt nachgefragt werden. Zweitens ist in vielen Überschussberufen ein relativ hohes Maß an beruflicher Flexibilität sichtbar. Gleichwohl gilt es zu beachten, dass neben den qualifikatorischen Aspekten eine Vielzahl von weiteren Faktoren einen Einfluss darauf ausüben, ob Beschäftigte überhaupt zu einem Quereinstieg in bestimmte Engpassberufe bereit sind. Hierzu zählen bspw. Aspekte wie das Gehalt oder die generellen Arbeitsbedingungen. Das gilt insbesondere, da es sich bei den Überschussberufen eher um akademisch geprägte Berufsgruppen handelt, bei den Engpassberufen hingegen um solche mit einer in der Regel beruflichen Ausbildung. Vor allem bei einem Wechsel von einem akademischen in einen Ausbildungsberuf ist dies oft mit Gehaltseinbußen verbunden.

[8] Die Berufsfachlichkeit entspricht der statistischen Einordnung gemäß der Klassifikation der Berufe und erfolgt anhand der Ähnlichkeit Tätigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse. Als Zielberuf wird der Beruf bezeichnet, in den Arbeitslose vorrangig vermittelt werden wollen. Der Beruf, den Arbeitslose bei der Beschäftigungsaufnahme dann tatsächlich ausüben, ist der Einmündungsberuf.

[9] Die in der Tabelle abgetragenen Wahrscheinlichkeiten sind dabei wie folgt zu lesen: Die Berufshauptgruppe Land, -Tier- und Forstwirtschaft gehört gemäß der Szenariorechnungen im Jahr 2035 zu den Berufen mit einem Angebotsüberschuss. Die Wahrscheinlichkeit eines Berufswechsels in die von Engpässen betroffenen Berufshauptgruppen Gartenbauberufe und Floristik liegt bei vier Prozent. Insgesamt wechseln im Verlauf des Erwerbslebens in dieser Berufshauptgruppe 57 Prozent in einen der Engpassberufe.

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