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Türkei

Wirtschaftspolitik

Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei AKP haben dem Land, das von großen regionalen Disparitäten zwischen dem wirtschaftlich starken Westen und dem ärmeren Osten geprägt ist, mit einem schuldengetriebenen Wachstumsmodell über viele Jahre hohe Kapitalzuflüsse und Einkommenszuwächse beschert. Gerade im Vergleich zu Südosteuropa ist die Türkei längst kein Billiglohnland mehr, das auf arbeitsintensiven Industrien basiert. Die globale Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 und veränderte Finanzierungsbedingungen haben die hohe Wachstumsdynamik jedoch deutlich abgeschwächt und zu starker Währungsabwertung, zweistelligen Inflationsraten und Erwerbslosenquoten geführt. Erdogans Umbau staatlicher Institutionen zu einem autoritären Präsidialsystem haben zudem die politische Unsicherheit erhöht.

Demografie und Arbeitsmarkt

Die Bevölkerung der Türkei ist jung und sie wächst. Trotz Nettoabwanderung und rückläufiger Geburtenrate nimmt die Einwohnerzahl aufgrund der steigenden Lebenserwartung von 84 Millionen (2020) auf 94 Millionen Menschen (2040) zu. Nur 9 Prozent der Bevölkerung sind älter als 64 Jahre. Auch in 20 Jahren wird dieser Wert mit 16 Prozent noch deutlich unter dem aktuellen Wert in Deutschland (2020: 22 %) liegen. Rund zwei Drittel der türkischen Bevölkerung sind 2020 bzw. werden 2040 im erwerbsfähigen Alter sein. Der Großteil von ihnen drängt auf den Arbeitsmarkt, der aber schon heute nicht ausreichend Beschäftigungsmöglichkeiten für alle bietet. Die Arbeitsmarktstrukturen sind starr, die Erwerbsquoten von Frauen sind in allen Altersgruppen niedrig, die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, der Schwarzmarkt blüht. Langfristig erwarten wir kaum strukturelle Verbesserungen und eine anhaltend hohe Erwerbslosenquote von knapp 15 Prozent.

Gesamtwirtschaftliche Entwicklung

Im Jahr 2020 stagnierte das Wirtschaftswachstum. Die COVID-19-Pandemie hat den internationalen Handel und den Tourismus massiv beeinträchtigt und damit auch die Türkei getroffen. Doch schon 2019 war das BIP mit 0,9 Prozent kaum mehr gewachsen, vor allem, weil der Vertrauensverlust in die Wirtschaftspolitik und türkische Lira die Konjunktur schwächeln ließ. Als Schwellenland mit junger, konsumfreudiger Bevölkerung und stetigem Ausbau des Kapitalstocks erzielt die Türkei jedoch in der langen Frist wieder höhere Wachstumsraten von über 2 Prozent. Es dauert aber bis Ende der 2020er-Jahre, bis wieder höhere Wachstumsraten erreicht werden. Dann gewinnt vor allem der private Konsum an Fahrt.

Konsum, Investitionen und Außenbeitrag

Der private Konsum, der bislang teils kreditfinanziert ist, bleibt langfristig der wichtigste Wachstumstreiber, sofern die notwendige Stabilisierung der Lira und der Verbraucherpreise gelingt. Wir gehen von einem stetigen Rückgang der Inflationsrate von knapp 15 Prozent (2020) auf 3,4 Prozent (2040) aus. Auch von den gesamtwirtschaftlichen Investitionen gehen starke Wachstumsimpulse aus. Finanzierungsschwierigkeiten, Währungsabwertung und politische Unsicherheiten haben das Investitionsklima zuletzt deutlich eingetrübt. Mit politischer und wirtschaftlicher Stabilisierung erwarten wir jedoch eine Erholung der Investitionstätigkeit. Einen kleineren Wachstumsbeitrag leisten zudem sowohl der Staatskonsum als auch die Nettoexporte.

Wirtschaftsstruktur

Die türkische Volkswirtschaft ist mit einem Bruttowertschöpfungsanteil des primären Sektors von 7 Prozent im Jahr 2020 deutlich landwirtschaftlicher geprägt als es Industrienationen heute sind. Gleichzeitig verfügt das Schwellenland über einen starken Dienstleistungssektor (63 %) und eine relativ gut entwickelte Industriebasis. Langfristig lassen Einkommenszuwächse die Nachfrage nach Dienstleistungen überdurchschnittlich steigen, sodass der tertiäre Sektor an Bedeutung gewinnt (2040: 66 %).

Branchenentwicklung

Verkehr und Lagerei, Handel sowie das Grundstücks- und Wohnungswesen sind und bleiben die wirtschaftsstärksten Branchen des Landes. Zusammengenommen entfällt weit mehr als ein Drittel der Bruttowertschöpfung auf sie. Die Textilbranche bleibt die größte Industriebranche der Türkei und verzeichnet bis 2040 überdurchschnittliche Zuwachsraten. Strukturelle Veränderungen zur Verbesserung der teils geringen Leistungsfähigkeit in technologisch anspruchsvolleren Branchen erwarten wir kaum. Zur Gruppe der wachstumsstärksten Einzelbranchen gehören die IKT sowie die unternehmensnahen Dienstleistungen.

Staatsfinanzen

Mit einer Schuldenstandsquote von 35 Prozent im Jahr 2020 war die türkische Staatsverschuldung im Vergleich zu der vieler anderer Länder gering. Eine schwächelnde Wirtschaftsdynamik und eine expansive Geld- und Fiskalpolitik haben das Haushaltssaldo seit dem Jahr 2016 immer tiefer ins Minus gedrückt (2020: -6,1 %). Weil wir keine fiskalpolitische Kehrtwende erwarten, gehen wir in den 2020er-Jahren von anhaltend hohen Haushaltsdefiziten und einer bis auf 62 Prozent (2032) steigenden Schuldenstandsquote aus. Erst die höhere gesamtwirtschaftliche Dynamik der 2030er-Jahre stabilisiert die Staatsfinanzen. Deutlich problematischer als die Verschuldung der öffentlichen Hand ist die Verschuldung türkischer Unternehmen, Banken und Privathaushalte. Denn sie sind zu einem hohen Anteil in Fremdwährung im Ausland verschuldet und werden daher von Währungsabwertungen empfindlich getroffen.

Außenhandel

Im Zuge von Nominallohnsteigerungen (8,4 % p. a.), die die merklichen Produktivitätsgewinne von 2,4 Prozent p. a. bis zum Jahr 2040 deutlich übersteigen, verliert die Türkei künftig an preislicher Wettbewerbsfähigkeit. Steigende Lohnstückkosten dämpfen das Exportgeschäft. Gleichwohl erwarten wir, dass der von der Regierung vorangetriebene Ausbau erneuerbarer Energien die hohe Importabhängigkeit von Öl-, Kohle-, und Gaslieferungen verringert. Knapp ein Drittel der Ex- und Importe entfällt auf die Europäische Union, die damit derzeit der wichtigste Handelspartner ist. Dieser Anteil sinkt langfristig etwas, weil die Türkei sich stärker Schwellen- und Entwicklungsländern wie Indien zuwendet. Deutschland behält auch bis 2040 seine Position als größter Absatzmarkt. Als Lieferland überholt Deutschland Russland und wird 2040 nach China auf Rang zwei liegen.

Institutionelle Rahmenbedingungen

Die Türkei ist seit 1999 EU-Beitrittskandidatin, allerdings sind die Verhandlungen zwischen Brüssel und Ankara seit 2016 faktisch zum Stillstand gekommen. Das Land ist mit der Europäischen Union jedoch über eine Zollunion verbunden, die für Industrieprodukte weitgehend freien Warenverkehr zwischen beiden Wirtschaftsräumen ermöglicht. Mit Public-private-Partnerships hat die Regierung den Infrastrukturausbau vorangetrieben und damit die Wettbewerbsfähigkeit der Türkei gestärkt. Trotz verbesserter Infrastruktur, großem Binnenmarkt und günstiger geografischer Lage trüben politische Unsicherheit, Währungsschwankungen, Bürokratie und Korruption das Investitions- und Geschäftsklima.

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