Länderfactsheets

Vereinigtes Königreich

Wirtschaftspolitik

Mit dem Jahreswechsel 2020/21 ist die Übergangsphase des EU-Ausstiegs zu Ende gegangen und das Vereinigte Königreich für die EU-Länder – trotz des vereinbarten Handels- und Kooperationsabkommens – zoll- und steuerrechtlich ein Drittland. Die Unsicherheit über die Folgen des EU-Ausstiegs schwächten bereits in den Vorjahren die Investitionstätigkeit und führten zu einer Abwertung des Pfunds. Als wirtschaftspolitische, vorrangig aber als klimapolitische Maßnahme will der britische Premier Boris Johnson bis zum Jahr 2030 milliardenschwere Investitionen tätigen, um die Energiewende anzukurbeln. Geplant ist u. a. ein Ausbau von Wind- und Atomenergie sowie mittelfristig ein Verkaufsverbot für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor.

Demografie und Arbeitsmarkt

Während die Mehrheit der europäischen Länder künftig sinkende Einwohnerzahlen verzeichnet, wächst die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs bis 2040 um knapp 5 Millionen auf 72 Millionen Menschen. Stärkster Treiber dieses Wachstums bleibt die Zuwanderung. Obwohl sie künftig u. a. im Zuge des Brexits geringer ist als in den Vorjahren, schwächt die Zuwanderung den negativen Effekt des demografischen Wandels auf den britischen Arbeitsmarkt ab. Wir rechnen mit einem kontinuierlichen Beschäftigungsaufbau: Die Zahl der Erwerbstätigen steigt im Zeitraum von 2020 bis 2040 unseren Berechnungen zufolge um 0,4 Prozent p. a., während sich die Arbeitslosigkeit langfristig auf das Niveau vor der Pandemie einpendelt. Die Erwerbslosenquote stieg krisenbedingt von 3,7 Prozent (2019) auf 5,4 Prozent (2020) an. Die Erholung des britischen Arbeitsmarkts von der COVID-19-Pandemie dauert gleichwohl länger als in anderen Volkswirtschaften, weil sich das Vereinigte Königreich gleichzeitig an die neuen Rahmenbedingungen außerhalb des EU-Binnenmarkts anpassen muss.

Gesamtwirtschaftliche Entwicklung

Nicht nur COVID-19, sondern auch der Brexit setzten der Volkswirtschaft im Jahr 2020 erheblich zu. Die Wirtschaftsleistung schrumpfte um 7,5 Prozent. Die Nachwirkungen der Pandemie und die Auswirkungen des EU-Austritts dämpfen weiterhin die wirtschaftliche Erholung in der kurzen und mittleren Frist – trotz Gegenmaßnahmen der Regierung. Wir erwarten, dass das Vereinigte Königreich erst in der zweiten Hälfte der 2020er-Jahre auf einen langfristigen Wachstumspfad zurückfindet und dann mit Zuwachsraten zwischen 1,0 und 1,8 Prozent zulegt. Ein wichtiger Wachstumstreiber sind, neben dem Bevölkerungswachstum, moderate Produktivitätssteigerungen. Mit einem Anstieg um 1,1 Prozent p. a. bis 2040 fallen sie jedoch geringer aus als in den meisten EU-Ländern.

Konsum, Investitionen und Außenbeitrag

Das britische Wirtschaftswachstum ist vorrangig konsumgetrieben. Zwei Drittel des Wachstums bis 2040 entfallen unseren Prognosen zufolge verwendungsseitig auf den Konsum privater Haushalte, auch wenn deren Kauflaune pandemiebedingt kurzfristig eingebrochen ist. Langfristig kurbeln Bevölkerungs- und Beschäftigungswachstum den privaten Konsum an. Der Staatskonsum, zu dem u. a. Subventionszahlungen an Unternehmen im Rahmen der Konjunkturpakete zählen, leistet mit 15 Prozent einen ebenso großen Wachstumsbeitrag wie die Investitionen. Letztere gewinnen aber erst Ende der 2020er-Jahre spürbar an Fahrt, wenn sich das Investitionsklima nach Pandemie und Brexit nachhaltig verbessert. Laut unseren Berechnungen werden die Investitionen erst um das Jahr 2027 wieder das Niveau von 2019 erreichen. Die geringe Investitionstätigkeit senkt gleichzeitig den Importbedarf. In der Folge verzeichnet das Vereinigte Königreich in den 2020er-Jahren einen positiven Außenbeitrag.

Wirtschaftsstruktur

Kaum eine Volkswirtschaft „lebt“ so sehr von ihren Dienstleistungen wie die britische: 79 Prozent der Bruttowertschöpfung werden heute im tertiären Sektor erzielt (2040: 80 %). Ein wesentlicher Teil davon entfiel bislang auf den Finanzplatz London, der aufgrund des Brexits aber kurz- und mittelfristig von Kapitalverlagerungen in EU-Länder betroffen ist. Das produzierende Gewerbe inkl. Bau spielt mit 21 Prozent (2020) bzw. 20 Prozent (2040) eine deutlich kleinere Rolle. Die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Landwirtschaft ist marginal.

Branchenentwicklung

Strukturwandel und Digitalisierung verändern langfristig die Wirtschaft des Vereinigten Königreichs. Im Dienstleistungssektor gewinnen IKT und unternehmensnahe Dienstleistungen an Bedeutung, während das Grundstücks- und Wohnungswesen sowie der Bereich der Finanzdienstleistungen nur unterdurchschnittlich wachsen. Überdurchschnittliche Zuwächse der Bruttowertschöpfung erwarten wir in den Industriebranchen DV-Geräte, Elektronik, Optik sowie Maschinenbau und sonstigem Fahrzeugbau. Bei den Erwerbstätigenzahlen ist eine Zweiteilung zu beobachten: Während die Erwerbstätigenzahl im Dienstleistungssektor steigt, sinkt sie in der Industrie. 2040 werden lediglich 6 Prozent der Erwerbstätigen in der Industrie tätig sein, im Jahr 2020 waren es noch 8 Prozent.

Staatsfinanzen

Die Staatsverschuldung des Vereinigten Königreichs hatte sich im Zuge der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 nahezu verdoppelt und konnte seitdem kaum abgebaut werden. 2019 belief sich die Schuldenstandsquote auf 85 Prozent, 2020 stieg die Verschuldung auf 94 Prozent an. Die pandemiebedingten Konjunktur- und Investitionsprogramme belasten die Staatsfinanzen auch in den kommenden Jahren. Wir rechnen langfristig mit Haushaltsdefiziten von rund 3 Prozent der Wirtschaftsleistung und einer moderaten Absenkung der Schuldenstandsquote auf 74 Prozent im Jahr 2040.

Außenhandel

Auch die Exporte brauchen bis Ende der 2020er-Jahre, um sich von der durch COVID-19 und Brexit verursachten Störung der Lieferketten vollständig zu erholen. Dass die Lohnstückkosten im internationalen Vergleich sogar leicht sinken, hilft dem britischen Exportsektor. Denn infolge einer relativ moderaten Lohndynamik, moderaten Produktivitätssteigerungen und einer anhaltenden Abwertung des britischen Pfunds gewinnt das Vereinigte Königreich langfristig leicht an preislicher Wettbewerbsfähigkeit. 49 Prozent seiner Importe bezieht das Land heute aus der Europäischen Union, 44 Prozent seiner Exporte gehen in die Europäische Union. In den nächsten 20 Jahren geht der exportseitige EU-Anteil um wenige Prozentpunkte zurück zugunsten von Schwellenländern wie Indien. Eine gänzliche Neuausrichtung des britischen Außenhandels im Zuge des Brexits erwarten wir nicht. Die USA bleiben bis 2040 der größte Absatzmarkt. China löst Deutschland im Laufe der 2030er-Jahre als wichtigstes Lieferland ab.

Institutionelle Rahmenbedingungen

Das gute Geschäftsklima und die renommierte Forschungslandschaft machen das Vereinigte Königreich zu einem der wettbewerbsfähigsten Standorte und wichtigsten Zielländer für ausländische Direktinvestitionen weltweit. Als Tor zum europäischen Markt wird es nach dem Brexit gleichwohl nicht mehr fungieren können, auch wenn sich Brüssel und London Ende 2020 auf ein Handels- und Kooperationsabkommen geeinigt und zumindest Zölle und Quoten beim Warenhandel zwischen den beiden Wirtschaftsräumen abgewendet haben.

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