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Ungarn

Wirtschaftspolitik

Seit rund zehn Jahren regiert in Ungarn Ministerpräsident Viktor Orbán. Bei den Wahlen im Jahr 2010 erreichte seine Fidesz-Partei erstmals die Mehrheit aller Stimmen und verfügt seitdem über eine Zweidrittelmehrheit im ungarischen Parlament. Dadurch konnte er neben zahlreichen Verfassungsänderungen auch seine als „Orbanomics“ bezeichnete Wirtschaftspolitik durchsetzen. Diese umfasste Veränderungen im Steuer- und Sozialsystem, von denen vor allem Besserverdienende profitieren, sowie eine Entlastung der Unternehmen unter gleichzeitig steigender politischer Einflussnahme auf die Wirtschaft. Orbán muss sich zunehmend Vorwürfen der Korruption, mangelnder Rechtsstaatlichkeit und eingeschränkter Pressefreiheit stellen.

Demografie und Arbeitsmarkt

Im Jahr 2020 lebten 9,7 Millionen Menschen in Ungarn, jedoch nimmt die Bevölkerungszahl seit Jahren kontinuierlich ab. Grund dafür ist neben einer niedrigen Geburtenrate vor allem eine deutliche Abwanderung. Über die nächsten Dekaden verstärkt sich dieser Trend. Dementsprechend nimmt die ungarische Bevölkerung bis zum Jahr 2040 um insgesamt 7,8 Prozent ab. Die Kombination aus Bevölkerungsrückgang und Wirtschaftswachstum erhöht den Druck auf dem Arbeitsmarkt. Weil die Zahl der Erwerbspersonen durch die zunehmende Alterung der Gesellschaft immer weiter sinkt, verschärft sich langfristig der Mangel an Arbeitskräften. Die Erwerbslosenquote sinkt nach einem kurzen Anstieg während der COVID-19-Pandemie ab Mitte der 2020er-Jahre weiter, bis im Jahr 2040 faktisch Vollbeschäftigung erreicht wird (2,4 %).

Gesamtwirtschaftliche Entwicklung

Ungarns Volkswirtschaft gehört mit ihren dynamischen Wachstumsraten der vergangenen Jahre zu den stärksten in Mittel- und Osteuropa. Eine wichtige Rolle spielten dafür Infrastrukturinvestitionen, die zu großen Teilen durch die Europäische Union finanziert wurden. Im Jahr 2019 wuchs das BIP noch um 4,6 Prozent. Die pandemiebedingte weltweite Rezession hat die ungarische Wirtschaft wegen ihres Schwerpunktes auf hochzyklischen Wirtschaftszweigen wie der Automobilindustrie besonders in Mitleidenschaft gezogen. Nach der Krise erholt sich Ungarns Volkswirtschaft voraussichtlich schnell (2021: 3,5 % Wirtschaftswachstum) und kann fast an das Vorkrisenniveau anknüpfen. Langfristig flacht das Wachstum deutlich ab, u. a. aufgrund des demografischen Wandels. Richtung 2040 wird das ungarische BIP mit 1,1 Prozent genauso stark wachsen wie das deutsche.

Konsum, Investitionen und Außenbeitrag

Den größten Beitrag zur langfristigen Wirtschaftsentwicklung Ungarns leistet in zunehmendem Maße der Binnenkonsum und dabei vor allem der Konsum der privaten Haushalte. Bis zum Jahr 2040 zieht der private Konsum – getrieben von starken Reallohnsteigerungen und hohem Beschäftigungsstand – mit jahresdurchschnittlich 1,7 Prozent an. Im Zeitraum von 2020 bis 2040 trägt er gut die Hälfte (51 %) zum langfristigen Wirtschaftswachstum bei. Für die exportorientierte ungarische Volkswirtschaft spielte der Außenbeitrag ebenfalls eine tragende Rolle. Langfristig fördert der Außenbeitrag das ungarische Wirtschaftswachstum aber weniger stark als in den letzten zwanzig Jahren. Gleiches gilt für die Investitionen.

Wirtschaftsstruktur

Auch in der ungarischen Volkswirtschaft ist der Strukturwandel eindeutig zu erkennen. Der Dienstleistungsanteil an der Bruttowertschöpfung wuchs über die vergangenen Jahre auf gut zwei Drittel im Jahr 2020 an, während die Anteile des produzierenden Gewerbes (2020: 30 %) und der Landwirtschaft (2020: 3,5 %) kontinuierlich sanken. Für die kommenden Dekaden erwarten wir, dass sich dieser Trend fortsetzt.

Branchenentwicklung

Die Automobilindustrie ist, wie im Nachbarland Slowakei, das Rückgrat des exportorientierten produzierenden Gewerbes und trug im Jahr 2020 6 Prozent zur Bruttowertschöpfung bei. Ein bedeutender Wirtschaftsfaktor ist auch das Baugewerbe, auf das im Jahr 2020 5 Prozent der Bruttowertschöpfung und 7 Prozent der Erwerbstätigen entfielen. Beide Branchen bleiben langfristig wichtig, auch wenn sie mit 1,2 Prozent bzw. 0,9 Prozent bis zum Jahr 2040 leicht unterdurchschnittlich wachsen. Wachstumstreiber sind Branchen des tertiären Sektors mit Ausnahme der öffentlichen Verwaltung und des Bildungswesens. Das schrumpfende Erwerbspersonenpotenzial wirkt sich negativ auf die Beschäftigung in allen Branchen aus. Vom Beschäftigungsabbau sind besonders Branchen wie die Kokerei und die Mineralölverarbeitung, die Textilindustrie und der Bergbau betroffen.

Produktivitäts- und Lohndynamik

Den zunehmenden Fachkräftemangel der letzten Jahre bei gleichzeitig steigender Nachfrage nach Arbeitskräften kompensierte die Wirtschaft, indem sie spürbare Produktivitätsfortschritte erzielte. Künftig nimmt der Druck auf Arbeitsmarkt und Lohnniveau demografisch bedingt weiter zu, die Dynamik der Produktivitätsfortschritte nimmt aber ab. Produktivitäts- und Lohndynamik entwickeln sich langfristig also immer weiter auseinander. Die Lohnsteigerungen drücken damit auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Langfristig übertreffen Ungarns Lohnstückkosten das slowakische Niveau. Unter den in diesem Report näher betrachteten Ländern Mittel- und Osteuropas werden 2040 nur in Polen und Tschechien höhere Lohnstückkosten anfallen. Im Zeitraum von 2020 bis 2040 rechnen wir in Ungarn bei Inflationsraten von 3 Prozent p. a. mit jahresdurchschnittlichen Reallohnsteigerungen von 2 Prozent.

Außenhandel

Seit dem ungarischen EU-Beitritt im Jahr 2004 sind Importe und Exporte des Landes stark angestiegen, wobei exportseitig meist höhere Wachstumsraten verzeichnet wurden. Dieser Trend setzt sich auch in den kommenden Dekaden fort, jedoch weniger dynamisch als bisher. Der bedeutendste ungarische Exportzweig ist die Automobilindustrie, importiert werden vorrangig Maschinen und Elektronik. Deutschland ist und bleibt mit einem Anteil von über 20 Prozent Ungarns Haupthandelspartner. Neben Deutschland spielt Polen eine wichtige Rolle. Während importseitig zusätzlich China und Österreich bedeutsame Lieferländer sind, zählen exportseitig Rumänien und die Slowakei zu den wichtigsten Absatzmärkten. Bis zum Jahr 2040 überholt China Polen in der Rangfolge der Lieferländer.

Institutionelle Rahmenbedingungen

Ungarn gilt als attraktiver Produktionsstandort in Mittel- und Osteuropa. Vor allem die deutsche Automobilindustrie profitiert dort von der guten industriellen Basis, niedrigen Lohnstückkosten und der ungarischen EU-Mitgliedschaft. Gleichzeitig mehren sich jedoch die Bedenken hinsichtlich der Stabilität und Unabhängigkeit staatlicher Institutionen.

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